Lebenswichtig oder systemrelevant?

Lebenswichtig oder systemrelevant?

Der Anwendungsbereich des Adjektivs „systemrelevant“ hat sich in der Corona-Krise stark erweitert. Statt nur für die Finanzbranche im Sinne des „too big to fail“ wird das Wort jetzt auch für Personal und Einrichtungen der Daseinsfürsorge gebraucht. Das schien erst einmal eine erfreuliche Entwicklung zu sein. Denn z. B. Pflegepersonal oder Menschen, die Lebensmittel verkaufen, leiden an mangelnder Wertschätzung, schlechten Arbeitsbedingungen und knausriger Bezahlung. Eine sprachliche Aufwertung dieser Berufsgruppen mit dem Adjektiv „systemrelevant“ ist also – so fühlt es sich an – überfällig. Eifrig schuf die Politik Listen systemrelevanter Berufe aus den Bereichen Energie, Wasser, Entsorgung, Ernährung, Hygiene, Kommunikation, Transport, Verkehr.

In diese Suppe der Systemrelevanz möchte ich heute – aus sprachlicher Sicht - mal gehörig reinspucken. Die Aufwertung bestimmter Berufe mit dem Adjektiv „systemrelevant“ ist nämlich eine Illusion. Zugegeben: Es ist eine Illusion, die wir gerne glauben möchten. Ihr Zauber beginnt jedoch bereits jetzt zu verfliegen wie aktuelle Titelzeilen zeigen:

„Ist Amazon jetzt systemrelevant?“

ARD 20.04.2020

„Bundesweite Aktion: ‚Gebäudereiniger sind systemrelevant‘“

handwerksblatt 16.04.2020

„Freischaffende Künstler sind systemrelevant“

Tagesspiegel 16.04.2020

„Corona-Krise: Elektrohandwerke sind systemrelevant“

handwerksblatt.de 31.03.2020

Um den Anwendungsbereich des Wortes ist geradezu ein semantischer Kampf aufgebrochen, wenn man solche Titelzeilen gegenüberstellt: „Corona: Bestatter werden systemrelevant“ (Sächsische Zeitung 04.04.) bzw. „Bestatter sind ‚nicht systemrelevant‘“ (Nordwest-Zeitung 13.04.).

Mittlerweile fühlen sich auch Buchhändler und Fensterreiniger systemrelevant. Und es stimmt, schaut man mit der System-Brille auf eine Gesellschaft, ist in der Tat so ziemlich alles und jeder systemrelevant. Denn „systemrelevant“ heißt, für ein System bedeutsam‘. Am Ende gilt das auch für den Sprachkritiker in der taz, denn er gibt den Menschen Orientierung, sodass sie nicht bösen Worten zuhören und falsche Dinge tun. Will sagen: Das Wort „systemrelevant“ ist binnen kürzester Zeit inflationär geworden. Es hat seinen Anwendungsbereich so ausgedehnt und kann mittlerweile alles und nichts bedeuten. Damit verfliegt jedoch die Aufwertung der eingangs benannten Berufsgruppen. Es war eine schöne Illusion.

"Systemrelevante" Individuen müssen erstmal überleben können

Die Systemtheorie lehrt uns: Gesellschaften sind auch nur Systeme. Und sie vergisst manchmal: Gesellschaften bestehen aus Individuen. Wer wirklich an der Aufwertung von Menschen interessiert ist, die unserer Daseinsfürsorge dienen, dem sei ein anderes Framing empfohlen. Der Fortbestand einer Gemeinschaft als System hängt in erster Linie vom Überleben der Individuen ab. Das heißt Überlebenssicherheit kommt vor Systemrelevanz. Einige der betroffenen Berufe sind nämlich überlebenswichtig und nicht nur systemrelevant. Will man Berufe aufwerten, die uns am Leben halten, müssen wir erstmal begreifen: Leben sticht System und nicht anders herum.

Dieser Text ist auch am 23.04.2020 in der Taz erschienen und kann online hier abgerufen werden.


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Wer ist eigentlich systemrelevant?

Ist das Wort #systemrelevant geeignet, um vernachlässigte Berufsgruppen, die unser Überleben sichern, aufzuwerten?

Gepostet von Wortgucker am Donnerstag, 23. April 2020