Wie aus dem nüchternen Fachwort „Pull-Faktor“ ein Angst-Begriff wurde

Wie aus dem nüchternen Fachwort „Pull-Faktor“ ein Angst-Begriff wurde

In aussichtlosen Debatten hilft es, bestimmte Schlüsselwörter auf den Prüfstand zu stellen. Schauen wir nach Moria: Moria brannte. Jetzt wird Moria wiederaufgebaut. Wobei man streng genommen nicht von „Aufbauen“ sprechen kann. Dort wird nicht Stein auf Stein gelegt. Wenn überhaupt werden Zelte, Unterstände, Verschläge errichtet, wie zuvor.

Manche Wörter können im Verlaufe einer Debatte ihre Bedeutung ändern. Sie können eine neue Konnotation, einen neuen Bedeutungsinhalt hinzugewinnen. Einst neutrale Vokabeln werden so unbewusst zu handfesten Schlagwörtern, Argumenten, Totschlagargumenten.

Ich möchte einen Begriff zur Diskussion stellen, der diesen Wandel durchlaufen hat und Belege dieses Wandels liefern. „Pull-Faktor“ ist eine entscheidende Vokabel des europäischen Fluchtdiskurses.

Der Begriff geht zurück auf das „Push-Pull-Modell der Migration“ von Everett S. Lee aus den 1960er Jahren. Demnach sei Migration ein Prozess, bei dem Menschen aus einem ursprünglichen Gebiet „weggedrückt“ werden (engl.: „to push“) und bzw. oder von einem anderen Gebiet „angezogen“ (engl.: „to pull“) werden. Die konkreten Gründe werden als Push- und Pull-Faktoren bezeichnet. Push-Faktoren sind also Fluchtursachen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, soziale Ungleichheit, hohe Steuern, fehlende Infrastruktur, Landknappheit, Überbevölkerung, Krieg, Diktatur, Folter, Völkermord, Missachtung der Menschenrechte, Diskriminierung, Verfolgung, Umweltkatastrophen u.v.a.

Im Gegensatz dazu sind Pull-Faktoren angenehme Zustände wie eine starke Wirtschaft, viele Jobs, gute Sozialleistungen, Sicherheit, Wohnmöglichkeiten, Toleranz, Bildung, ein Gesundheitssystem, Sozialleistungen, viel Platz, gute Einwanderungsgesetze, Rechtssicherheit, Frieden, persönliche Freiheit u.v.a.

Das ist der fachliche Hintergrund zum „Pull-Faktor“ und genauso wird der Begriff in den Kreisen der Entwicklungszusammenarbeit gebraucht. Durch den Fluchtdiskurs der letzten Jahre gelangte die Vokabel über die Politik in den Alltagssprachgebrauch. Und hier hat sie sich unbemerkt verändert. Dazu ein Textausschnitt von Tagesschau.de:

Abbildung: https://www.tagesschau.de/inland/aufnahme-fluechtlinge-wer-will-was-101.html

Pull-Faktoren sind heute keine reinen, neutralen Fluchtgründe mehr, sondern sie sind zu ‚Befürchtungen‘ geworden. Damit ist eine neue Bedeutungsnuance, eine Konnotation hinzugekommen: Die neue Bedeutung heißt „Angst“. Pull Faktoren sind das, „was zu vermeiden ist“. Dieser neue Wortgebrauch ist stark verbreitet. Dazu ein paar wahllose Beispiele:

Abbildung: https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/kommentar-zur-lage-in-moria-die-kinder-von-moria-brauchen-unsere-hilfe-72843314.bild.html

Abbildung: https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/kommentar-zur-lage-in-moria-die-kinder-von-moria-brauchen-unsere-hilfe-72843314.bild.html

Abbildung: https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article205727943/Der-Pull-Faktor-ein-Mysterium-der-Migrationspolitik.html

Die Belege zeigen, aus dem neutralen Fachbegriff „Pull-Faktor“ ist ein Angstbegriff geworden. Die immanente Argumentation des Begriffes „Pull-Faktor“ lautet: Pull-Faktoren sind zu vermeiden, damit keine Geflüchteten Ausländer nach Europa kommen. Damit hat es der ‚Pull Faktor‘ in die Reihe jener Schlagworte geschafft, die Gleiches aussagen wie die Wörter „Flüchtlingswelle“ oder „Flüchtlingsflut“. Dieser neue Wortgebrauch von „Pull-Faktor“ ist nichts anderes als die Erzählung der AfD. Mit einem Unterschied: Es ist niemandem bewusst. Das Wort hat immer noch den Beiklang des Fachbegriffs. Es ist ein Tarnwort, dessen Wirksamkeit auf seiner Unauffälligkeit beruht.

Besonders deutlich wird das, wenn - wie im Folgenden bei der SZ – versucht wird, zu widerlegen, dass die Seenotrettung von Geflüchteten, kein Pull Faktor sei, weil die Geflüchteten-Anzahl dadurch nachweislich NICHT gestiegen sei. Mit Verlaub - das ist eine argumentative Farce, weil sich gerade dadurch der neue Angst-Gebrauch des Wortes „Pull-Faktor“ wiederholt und verstetigt. Die AutorIn der SZ erkennt damit an, dass Pull-Faktoren zu vermeiden sind. Sie argumentiert damit in letzter Konsequenz dagegen Geflüchtete aufzunehmen. Ich weiß, das klingt kompliziert, darum noch einmal klarer: Wer heute Pull-Faktor sagt, argumentiert im Alltagsdiskurs automatisch gegen Geflüchtete, denn ‚Pull-Faktoren sind zu vermeiden‘.

Abbildung: https://www.sueddeutsche.de/politik/italien-malta-sea-watch-4-sucht-einen-hafen-1.5010078

Wie konnte dieser Wortwandel geschehen? Wittgenstein weiß Rat: Die Bedeutung eines Wortes ist dessen Gebrauch. In der Fachsprache geht es einzig darum, die Ursachen und Gründe von Flucht zu verstehen. Ganz anders der Sprachgebrauch in der Politik der EU. Hier kommt der Angstgedanke hinzu und dieser verweist indirekt auf die politische Einstellung. Es ist ganz einfach: Europa will keine Geflüchteten aufnehmen. Der Bedeutungswandel des Wortes „Pull-Faktor“ ist ein subtiles Indiz für die Ausländerangst Europas.

Während die Folgen dieser Angst real sind, wie Moria zeigt, bleibt die Angst selbst auch im Begriff des Pull-Faktors rein hypothetisch. Wer aus Seenot rettet, generiert einen Pull-Faktor. Feuer in Moria ist ein Pull-Faktor. Wer unbürokratisch Menschen aus Moria evakuiert, schafft Pull-Faktoren. Wenn Bürgermeister*innen in Deutschland Geflüchtete aufnehmen wollen, dann schaffen sie Pull-Faktoren. Wer jetzt 100 Kinder rettet, muss Tausende retten. Wer jetzt 5000 Leute rettet, muss Millionen retten. In der Logik der Ausländerangst wird alles zum Pull-Faktor. Es sind bequeme hypothetische Argumente, die sich vielleicht sogar beweisen lassen. Aber der Beweis folgt erst nach der Rettung. Da wird man sich dann schön ärgern, Menschen gerettet zu haben, wenn man dann noch mehr Menschen retten muss. Im Gegensatz zu diesen Hypothesen ist das Leid der Menschen in Moria echt. Und damit (eigentlich) ein stärkeres Argument im demokratischen Diskurs.

Diese kleine Wortgeschichte ist ein bedauerlicher Beleg für die Kleingeistigkeit Europas. Herrlich arrogant zu glauben, wir müssten unserer Europäisches Haus nur so mies wie möglich darstellen und schon wären die Geflüchteten weg. Willkommen im Wettbewerb um das mieseste EU-Land, aus dem selbst Kriegsflüchtlinge Reißaus noch nehmen ist. Dieses europäische Kopfkino lässt anscheinend komplett außer Acht, dass sich Menschen selbst von einem Lager wie Moria kaum von Flucht und Asylgesuchen abhalten lassen.

Aus Moria sendet die EU nicht nur ein falsches Signal an Länder wie China, Saudi-Arabien, Russland und all die anderen, die sich öfter unsere Standpauken anhören müssen. Die EU zeigt, sie ist nicht in der Lage die Menschenrechte für Menschen zu garantieren, die sich momentan in der EU befinden. Es könnten schließlich auch andere die Menschenrechte für sich reklamieren.

Das ist in erster Linie ein schlimmes Signal an die eigenen Bürger.


Dieser Text erschien am 18.09.2020 auf Übermedien und kann online hier nachgelesen werden.

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Pull-Faktoren sind heute keine reinen, neutralen Fluchtgründe mehr, sondern sie sind zu Befürchtungen geworden. Damit...

Gepostet von Wortgucker am Samstag, 19. September 2020