Opfertopos entzieht sich der Kritik

Opfertopos entzieht sich der Kritik

Ein Shitstorm ist laut Wörterbuch ein “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium”. (1) Diese Definition ist natürlich stark angepasst an die friedliebende Seele von Leuten, die im Duden nach Wortbedeutungen schauen.

Aus Wortguckerischer Sicht ist eines interessant: Das Wort ist aus der Perspektive derjenigen Person gebildet, die die “Scheiße” abkriegt. Und das hat Auswirkungen, die wir uns bewusst machen sollten. Schauen wir es uns mal im Detail an.

Was genau ist nun der “Shit” im Shitstorm? Wer sich die Mühe macht hinzuschauen, sieht, dass in Shitstorms zwei Sorten von “Shit” verteilt werden. Zum einen ist da jener Teil, der nichts anderes ist als “Kritik”. Zum anderen sind da wüste Beschimpfungen und Hatespeech.

Kritik kann berechtigt oder unberechtigt sein, gerecht oder ungerecht, laut oder leise, Formkritik oder Inhaltskritik, es gibt auch dumme Kritik. Einige Kritiken sind besser verdaulich als andere. Auch wenn Kritik für die meisten Menschen nicht angenehm ist, sie ist etwas anderes als Hatespeech. Und doch tritt beides gemeinsam auf. Denn in der Dynamik sozialer Medien vervielfältigt sich Kritik sehr schnell. Die Kritiker fühlen sich bestätigt, einige verlieren die Contenance und beschimpfen den Kritisierten.

Wir alle haben doch schon einmal Wasser mit rotem Traubensaft vermischt? Rot ist im Vorteil. Am Ende erhalten wir eine rote Flüssigkeit. Das gleiche passiert, wenn sich ‘Kritik’ und ‘Hatespeech’ im Begriff “Shitstorm” vermischen. Am Ende ist der “Shit” im Vorteil. Und das ist aus Sicht eines Kritisierten ein klarer argumentativer Vorteil. Denn er kann berechtigte Kritik mit diesem Begriff einfach weg-rahmen. Er ist dann nicht mehr “Der Kritisierte”, sondern “Der Angegriffene”, also “Das Opfer”. Dieses Opfer muss sich dann auch nicht mehr mit der Kritik in dem “Storm” auseinandersetzen.

Also: Es gibt da draußen richtig fiese Shitstorms. Und es gibt Fälle massenweiser Kritik, die einfach “Shitstorm” genannt werden. In letzterem Fall ist der Begriff Shitstorm nur ein Argumentationsmuster, ein Framing, um der Kritik auszuweichen und - um die Mehrheit der eigenen Anhänger solidarisch hinter sich zu vereinen.

Um sich als Publikum nicht vor den Karren spannen zu lassen, sollten wir wissen:

1: Das Wort ist aus Sicht des vom Sturm Getroffenen gebildet und damit ist es kein neutraler Begriff, sondern zumindest argumentationsverdächtig.

2. Selbst, wenn wir politisch anders als der Ge-Shitstormte denken, sollten wir bereit sein, den Shit vom Sturm zu trennen. Im Zweifel zugunsten unseres politischen Gegners.

3. Das gleiche gilt, wenn wir mit dem Kritisierten politisch auf Wellenlänge sind. Hier dann im Zweifel sogar zu Ungunsten unseres Verbündeten.

Nichts schwerer als das.

1: Duden


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Ein #Shitstorm ist laut Wörterbuch ein “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium”. (1) Diese Definition ist...

Gepostet von Wortgucker am Mittwoch, 10. Februar 2021